„Das Konstrukt Volkspartei ist angekratzt“

Im Wald und am Wasser findet Matthias Weigl Kraft zwischen anstrengendem Unialltag und Politik. -F.: Pledl

Auf Umfragewolke sieben schweben derzeit die Grünen. Im „Sonntagstrend“ des Meinungsforschungs- instituts Emnid erreichten sie 27 Prozent – den höchsten Wert aller Zeiten. Auch in den Passauer Wahllokalen schnitten die Grünen bei den Europawahlen prächtig ab. Werden sie zur neuen Volkspartei? Kreisvorsitzender Matthias Weigl im Passauer Gespräch über die Chancen. Er ist erst 20 Jahre alt – und damit selbst eine Ausnahme- erscheinung.

Herr Weigl, waren die Rekordumfragewerte zu erwarten? 

Damit gerechnet haben wir nicht, darauf gehofft schon. Da unterscheiden wir uns sicherlich von keiner anderen Partei, dass wir uns starke Zustimmung aus der Bevölkerung wünschen. Man muss allerdings zwischen Umfragen und Wahlergebnissen unterscheiden. Dass wir zwischen den Wahlen Umfragehochs verzeichnen, ist nichts Neues. Umso erfreulicher waren die Stimmabgaben in den Landtags- und Europawahlen. Im Bundestag sitzen wir im Moment allerdings noch als kleinste Fraktion – wenn man die Union als Ganzes sieht. Das ist Fakt. Statt zu viel zu erwarten, ist es wichtig, auf dem Boden zu bleiben und gute Politik zu machen.

Viele handeln die Grünen ja bereits als neue „Volkspartei“…

Die Grünen sind auf dem Weg, eine starke Kraft zu werden. Auf dem Weg zur Volkspartei sehe ich uns nicht, eher die Volksparteien auf dem Weg in die Geschichtsbücher. Das Konstrukt Volkspartei ist mit dem schlechten Abschneiden der SPD und der Union angekratzt. Ich glaube, wir werden in den nächsten Jahren massive Veränderungen in der Parteienlandschaft erleben. Vielleicht beginnt nun die Zeit der progressiven Kräfte.

Aufwind gibt es auch durch die Fridays-For-Future-Demos?

Ja, definitiv, wobei wir gute Zustimmungswerte der Jugendlichen auch schon vor Beginn der Klimabewegung hatten. Wir setzen eben stark auf zukunftsorientierte Themen, die auch die jungen Menschen sehr bewegen und die andere sträflich vernachlässigt haben – Stichwort Klimaschutz. Daher wohl unser Aufwind und die Abstrafung der SPD und Union bei der Europawahl.

Demonstrieren Sie selbst mit?

Ich war bisher auf jeder Demonstration. Die junge Generation wird gerade politisch. Dass sie zu verschiedensten Themen auf die Straße geht, tut der Politik gut und rüttelt die Bevölkerung wach. Das ist kein Hysterisch-Sein, sondern der Wunsch nach einem schönen, sozialverträglichen Leben, in dem es nicht nur uns Menschen, sondern auch unserem Planeten, den Tieren und der Natur gut geht. Dafür braucht es strukturelle Veränderungen, auch wenn man im individuellen Bereich sehr viel machen kann.

Gehen Sie mit gutem Beispiel voran?

Ich versuche es. Ich achte auf meine Ernährung, esse überwiegend vegetarisch bzw. vegan, habe kein eigenes Auto, fahre viel Rad und dank Semesterticket viel Bus, bei weiten Reisen Zug und verzichte auf unnötigen Konsum und Flüge.

„Nutella war eine Besonderheit“

Sind Sie so aufgewachsen?

Das Bewusstsein, dass man nicht primär auf sich, sondern auf andere schaut und bewusst lebt, das habe ich sicher von Zuhause mitbekommen. Meine Mama ist Vegetarierin, mein Vater Ernährungsmediziner, da war Nutella in der Kindheit schon eine Besonderheit – und das war auch gut so.

Wurde Ihnen das Talent zur Rhetorik auch in die Wiege gelegt?

Ich kann mich daran nicht mehr erinnern, aber mir wird nachgesagt, dass ich schon geredet habe wie ein Wasserfall, weit bevor ich laufen konnte (lacht). Eine Rolle spielt sicher auch die Zeit als Schüler- und Landesschülersprecher, in der ich an tollen Seminaren, aber auch an zähen Diskussionsrunden und Konferenzen teilgenommen habe und sehr viel Zeit in solchen Sitzungen verbrachte. Talent würde ich es also nicht nennen, sondern eher Übung, denn wenn du deine Gedanken und Ziele nicht klar formulieren kannst, gehst du unter.

Kommt die Jugend bei so viel Engagement nicht zu kurz?

Nein, gar nicht. Was mir am meisten fehlt, wenn ich unterwegs bin, ist Zeit mit meinem Hund oder einfach draußen zu sein. Ich bin gerne im Wald oder auf dem Wasser – im Kajak. Das brauche ich als Ausgleich. Ebenso wie Zeit mit meiner Freundin, der Familie und Freunden.

Inwiefern entsprechen Sie und andere Parteikollegen noch dem grünen „Prototypen“, dem Klischee des „alternativen“ Ökokriegers? Grünen-Chef Robert Habecks Auftreten kommt laut Umfragen derzeit sehr gut an…
Gestrickt wird auf den Parteiversammlungen noch immer (lacht). Anzüge getragen haben die Grünen aber schon vor Robert Habeck. Er bringt vor allem gute Impulse und vielleicht auch einen neuen Politikstil mit – ehrlich, diskussionsbereit und den Blick nach vorne gerichtet, ohne sich in personelle Streitereien zu verlieren, wie es die SPD jetzt tut oder tun wird, wenn es um den neuen Parteivorsitz geht. Der Kurs tut uns als Partei, aber auch der Demokratie in Deutschland, gut.

Macht sich das auch in den Mitgliederzahlen bemerkbar?

Ja, da ist ein enormer Zuwachs zu verzeichnen. Passau ist seit Kurzem der größte Grünen-Kreisverband in Niederbayern und bayernweit unter den Top fünf, was den prozentualen Mitgliederzuwachs im letzten Jahr betrifft. Trotzdem sind unsere Zahlen noch weit von denen der Union und Sozialdemokraten entfernt, dafür sind unsere Mitglieder – zumindest gefühlt – umso motivierter.

Hätte man für mehr Wahlerfolg auf allen Ebenen überhaupt das nötige Personal?

Da fällt mir spontan ein Interview von Joschka Fischer ein, in dem er sagte, die Grünen haben eine riesige Verantwortung, aber nicht die Organisationskraft einer großen Volkspartei. Über das habe ich erst einmal kurz nachdenken müssen. Er meint, dass eine Volkspartei in der Breite der Demokratie präsent ist und dafür ein gewisser Unterbau notwendig ist. Und wenn wir in den Landkreis Passau blicken, in den ländlichen Raum in Niederbayern, stellen wir fest, dass da kaum ein Grüner Bürgermeister, Landrätin oder überhaupt Gemeinderat wird. Wir müssen unseren Fokus daher mehr in die ländlichen Räume richten. Für die Kommunalwahl hoffen wir dort auf viele starke Listen, damit wir in jene Gremien kommen, die die unmittelbare Umgebung der Menschen gestalten.

Wie erklärt sich das Stadt-Land-Gefälle bei der Beliebtheit der Grünen? Dort, wo es tatsächlich „grünt“, inmitten der Natur, wird die Partei ja eher misstrauisch beäugt...

Vielleicht liegt es an der Bevölkerung auf dem Land, die konservativer geprägt ist, wobei sich auch da Veränderungen abzeichnen. Der konventionell wirtschaftende Bauer ist von den Auswirkungen eines Volksbegehrens zur Artenvielfalt außerdem weit mehr betroffen als die Familie in der Stadt, die seit Jahren im Biomarkt einkauft – und für die der tägliche Stau oder die schlechte Luft eine viel größere Rolle spielen. Andererseits brauchen auch die Bauern starke Grüne, denn sie werden den Klimawandel besonders hart zu spüren bekommen und die CSU redet viel, tut dagegen aber noch herzlich wenig.

Verkehr wird wohl auch Thema der Grünen in der anstehenden Kommunalwahl in Passau sein?

Ja, vor allem für die fast 27 000 Einpendler ist noch Platz für Verbesserungen, die der CSU-geführte Landkreis bisher leider ausbremst. Wir müssen den Schienenverkehr reaktivieren, bei der Ilztalbahn einen Regelbetrieb hinbekommen und funktionierende Verkehrsbünde schaffen, so dass die Leute ihr Auto gerne stehen lassen, weil sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln Zeit sparen. Aber auch der Bereich Soziales und unsere grünen Kernthemen Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit werden eine große Rolle spielen. Gerade haben wir ja die Initiative zum Klimanotstand gestartet. Wir wollen mehr grüne Ideen: Warum schaffen wir keine essbaren Gärten in der Stadt? Obstbäume und Beerensträucher statt zurechtgeschnittene Hecken? Grünprojekte statt 200 000 Euro verschwendete Investition in die Kameraüberwachung im Klostergarten?

Bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr sind Sie mit 19 als jüngster Kandidat der bayerischen Grünen angetreten. Ziehen Sie nun, mit 20, auch eine Kandidatur zum Oberbürgermeister in Betracht?

Spannend wird vor allem, wie die Gestaltungsmehrheit im nächsten Stadtrat aussieht. Die Priorität von uns Grünen wird also sein, eine möglichst starke, motivierte und bunte Fraktion zu stellen und die wesentlichen Punkte künftig mitentscheiden zu können. Außerdem wollen wir für einen möglichst hohen Frauenanteil kämpfen. Kandidatenfragen werden dann, so wie das bei uns üblich ist, basisdemokratisch von den Mitgliedern entschieden. Ich bin im Moment mit meinem Studium und meiner Tätigkeit im Regionalbüro von Toni Schuberl sehr zufrieden. Ausschließen möchte ich grundsätzlich aber nichts.

Grämen Sie sich dann überhaupt, dass Sie den Einzug in den Landtag nicht geschafft haben?

Gar nicht. Mir war das schon bewusst, dass ich von Platz sechs schlechte Chancen habe. Wir haben überhaupt nicht gewusst, ob wir überhaupt ein zweites Mandat schaffen. Ich habe, glaube ich, aber einen guten Beitrag leisten können für unser gutes Ergebnis in Niederbayern. Über mein persönliches Ergebnis freu’ ich mich heute noch. Ich hatte immerhin ein besseres Erststimmenergebnis als weit erfahrenere Kandidaten, in sechs Wahllokalen sogar die meisten Stimmen, und das, obwohl ich gerade erst aus der Schule raus bin. Für mich war das eine Bestätigung, dass junge Menschen sehr wohl ihren Platz in der Politik verdient haben. Jetzt hoffe ich, dass unsere kommunalen Parlamente nicht nur grüner und weiblicher, sondern auch jünger werden.

Quelle: Passauer Neue Presse vom 15.06.2019
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